Handelsblatt: Den Tech-Riesen müssen die digitalen Zügel angelegt werden

By Steven Hill, Handelsblatt, May 11, 2018

Wir können nicht darauf hoffen, bis sich die Internet-Monopolisten selbst regulieren. Stattdessen brauchen wir eine Renationalisierung des Internets.

Immer wieder aufs Neue erleben wir Kontroversen um FacebookGoogleAmazonTwitter und andere Silicon-Valley-Unternehmen.

Der Chor der Kritiker und die Zahl der Anklagepunkte, die sich gegen diese „Plattform-Monopolisten“ im Internet ins Feld führen lassen, werden immer größer: Monetarisierung persönlicher Daten, Beeinflussung von Wahlen, Verbreitung von Fake News, Ausschalten der Konkurrenz durch das Einverleiben von Start-ups und Förderung von Internetsucht durch „psychografisches Targeting“, das sich gezielt an emotional verwundbare Nutzer richtet.

Brauchen wir also neue Regulierungsmechanismen, oder sollten wir abwarten, bis die Internet-Monopolisten sich selbst regulieren? Diese Unternehmen existieren scheinbar überall und nirgends und entziehen sich dem Zugriff einzelner Staaten. Wie kann eine effektive Form der Regulierung aussehen?

Einige Experten haben angeregt, die Plattform-Monopolisten wie öffentliche Versorgungsunternehmen zu behandeln und ähnlich zu regulieren wie etwa Elektrizitätswerke. Ein anderes Lager möchte, dass Regierungen kartellrechtlich gegen diese Unternehmen vorgehen, um sie in kleinere, weniger bedrohliche Einheiten aufzuspalten.

Wieder andere fordern die Schaffung einer multinational-kollaborativen Forschungseinrichtung zur Entwicklung künstlicher Intelligenz. Damit ließen sich die Verfügbarkeit von Open-Source-Datenbanken und die Gemeinwohlorientierung auf diesem zentralen Gebiet sicherstellen.

Frankreichs Präsident Macron hat eine zukunftsweisende Strategie skizziert, mit der europäische Werte in den Wettlauf um die Entwicklung künstlicher Intelligenz integriert werden sollen. Die deutsche Regierung hingegen hat in dieser Frage bisher kaum Führung gezeigt, aber kürzlich ein „Facebook-Gesetz“ verabschiedet, nach dem Bußgelder gegen soziale Netzwerke im Internet verhängt werden können, die rechtswidrige Inhalte nicht innerhalb kurzer Zeit entfernen.

Nimmt man die Anstrengungen von EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager zur Durchsetzung einer auf internationalen Regeln beruhenden Ordnung und die kommende europäische Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) hinzu, so werden vage Konturen einer europäischen Vision sichtbar, die dem Silicon Valley und China eine Alternative entgegensetzt.

Alle werden Datenaktionäre?

Thema persönliche Daten: Sollten wir alle „Datenaktionäre“ werden und uns von Facebook und Google für die Erlaubnis bezahlen lassen, unsere Daten zu durchforsten? Oder würde das nur noch stärker einer hyperliberalen, individualistischen Zukunftssicht Vorschub leisten?

Wäre es nicht klüger, unsere persönlichen Informationen als „soziale Daten“ zu begreifen, die als Teil des Gemeinguts besonderen Schutz genießen und auf die wir kollektive Rechte als Bürger statt individuelle Eigentumsrechte als Konsumenten haben?

Das wahre Dilemma ist ein anderes. Wenn der US-Autobauer Ford in Deutschland ein Werk eröffnen möchte, benötigt er betriebliche Lizenzen und Genehmigungen. Verstößt er gegen die Bestimmungen, können Bußgelder verhängt oder kann gar die Lizenz entzogen werden.

Genau aus diesem Grund zog der als „Dieselgate“ bekannte Skandal um die Abgasmanipulationen von Volkswagen hohe Bußgelder nach sich. Regierungen können Monopolisten und andere betrügerische Unternehmen nur dann effektiv regulieren, wenn sie die Macht haben, ihnen den Zugang zu ihren nationalen Märkten zu verweigern.

Bei Plattformen im Internet ist es weitaus schwieriger, staatliche Souveränität durchzusetzen. Nutzt man auf dem Smartphone die Such- oder Kartenfunktionen von Google, so ist es gleichgültig, ob der Server, der die entsprechenden Algorithmen durchführt, sich physisch auf deutschem oder europäischem Territorium befindet. Wenn Google oder Facebook keine Lust haben, die Privatsphäre ihrer Nutzer zu schützen oder sich an die Gesetze zu halten, können sie mit ihren Servern und Einrichtungen einfach in ein anderes Land oder sogar auf eine künstliche Insel irgendwo in internationalen Gewässern umziehen und weitermachen wie zuvor.

Zwielichtige Social-Media- oder E-Commerce-Plattformen mit Sitz in Russland oder Nordkorea haben keinen Grund, sich an deutsche oder europäische Gesetze zu halten, solange es keine Möglichkeit gibt, diesen Firmen den Zugang zu den heimischen digitalen Märkten zu verwehren.

Effektive Steuermodelle

Diese Onlineplattformen sind eine extreme Herausforderung. Ein bescheidener Vorschlag: Analog zu den Lizenzen und Genehmigungen, die traditionelle Unternehmen für den Geschäftsbetrieb in Deutschland benötigen, müssen die Regulierungsbehörden „digitale Lizenzen“ für Internetfirmen schaffen.

Eine digitale Lizenz könnte eine Internetplattform dazu verpflichten, ihre Nutzerdaten den Regierungen jener Länder zugänglich zu machen, in denen die Firma aktiv ist. Die Daten könnten dann zur Entwicklung künstlicher Intelligenz genutzt werden. Auch Gewerkschaften könnten die Daten erhalten, um das Personal – zunehmend aus Freiberuflern bestehend – besser organisieren zu können.

Diese Lizenz könnte die Bedingung enthalten, dass die Firmen unsere persönlichen Daten gar nicht erst sammeln dürfen. Firmen könnten verpflichtet werden, Steuern in den Ländern zu zahlen, in denen sie Geld verdienen, statt dass sie Einnahmen in Steueroasen wie Irland oder die Kaimaninseln verschieben. Die DSGVO ist ein Beispiel für eine digitale Lizenz, die eng auf den Datenschutz ausgerichtet ist.

Doch das Dilemma bleibt: Was geschieht, wenn ein Unternehmen sich weigert, die Bestimmungen der digitalen Lizenz zu erfüllen? Immerhin hat die Europäische Kommission kürzlich eine 2,4-Milliarden-Euro-Strafe gegen Google verhängt, weil der Suchmaschinenbetreiber Konkurrenten bei der Onlineproduktsuche benachteiligt habe.

Wenn Google sich weigert zu zahlen und droht, seine Server in einem anderen Land aufzustellen – welche Handlungsmöglichkeiten bleiben der Kommission dann? Was geschieht, wenn Facebook beschließt, sich nicht mehr an die Bestimmungen der DSGVO zu halten? Oder sich zwar offiziell zu den neuen Datenschutzregeln bekennt, aber bei Verstößen ertappt wird? Es wäre nicht das erste Mal.

Neue digitale Grenzen

Um die Kontrolle über heimische Märkte zu behalten, müssen Länder im neuen digitalen Zeitalter nicht mehr nur ihre physischen Grenzen behaupten, sondern auch über die technischen und juristischen Mittel verfügen, ihre „digitalen Grenzen“ zu sichern. Bei besonders gravierenden Verstößen muss ein „digitaler Rauswurf“ aus einem bestimmten geografischen Gebiet möglich sein.

Google rauswerfen? Oder Facebook? Ist das technisch machbar? Die Internetgurus der frühen Jahre haben versprochen, dass Regierungen keine Macht haben würden, den grenzüberschreitenden digitalen Informationsfluss zu kontrollieren. Das ist vorbei.

Inzwischen nutzen viele Länder Technologien zur Kontrolle des Zugangs zu ihren Onlinepopulationen. China und der Iran schützen ihredigitalen Grenzen mit Eingriffen wie dem Sperren von IP-Adressen oder dem Filtern und Umleiten von Domain-Namen, um Webseiten wie die von Google, Facebook und Twitter zu blockieren.

Liberale Demokratien wie Deutschland oder die EU haben andere Werte als China, der Iran oder Pakistan. Demokratien können das Sperren von Webseiten als Mittel zur Durchsetzung legitimer Gesetze und Vorschriften einsetzen, die der Bewahrung von Rechtsstaatlichkeit dienen.

EU-Mitgliedstaaten beschränken bereits jetzt den Zugang zur Kommunikationsinfrastruktur und organisieren Kommunikationsmärkte auf jede erdenkliche Weise, ohne dass irgendjemand diese Interventionen mit Zensur verwechselt.

Viele treibt die Sorge um, dass ein Rauswurf von Facebook oder Google dazu führen würde, dass deren Dienstleistungen nicht mehr verfügbar sind. Ein Rauswurf wäre jedoch unwahrscheinlich; allein die glaubhafte Androhung dürfte für diese Unternehmen Motivation genug sein, ihre Geschäftspraktiken zu überarbeiten.

Bedrohung für die Demokratien

Falls nicht, würde die Beendigung ihrer Monopolstellung wirklichen Wettbewerb ermöglichen und Konkurrenten hervorbringen, die die Lücke füllen. In China hat der Rauswurf von Google, Twitter und Facebook zur Entstehung der einheimischen Varianten Alibaba, Tencent und Baidu geführt, von denen zwei inzwischen zu den 500 umsatzstärksten Firmen der Welt zählen.

Außerdem bedrohen die Plattform-Monopolisten längst die Demokratie und die Unverletzlichkeit von Wahlen. Facebook und Google untergraben zudem das wirtschaftliche Fundament einer unabhängigen Presse: Nicht weniger als 73 Prozent der weltweiten Werbeeinnahmen (84 Prozent außerhalb Chinas) und 25 Prozent der weltweiten Anzeigenverkäufe (online und Print) entfallen allein auf diese beiden Firmen.

Letztlich kann keine Regierung Facebook, Google oder die meisten anderen Plattformen regulieren, wenn sie nicht glaubhaft damit drohen kann, dem Unternehmen die digitale Betriebslizenz und so den Zugang zum Markt zu entziehen. Es ist doch akzeptiert, dass Nationen das Recht haben, ihre physischen Grenzen zu schützen. Gibt es einen Grund, mit Internetfirmen anders zu verfahren?

Demokratische Regierungen müssen schnell handeln, um das technologische Instrumentarium zur Einhegung von Unternehmen zu entwickeln, die demokratische Werte und Rechtsstaatlichkeit unterminieren. Eine Renationalisierung des Internets scheint unumgänglich zu sein.

Nationen und regionale Verbünde wie die EU müssen damit beginnen, digitale Zügel für diese Plattformunternehmen zu entwickeln, die zu ihrer Bevölkerung, ihren Werten und ihren zukünftigen Bedürfnissen passen. Die Alternative besteht darin, die Definition der Normen, die unsere Zukunft beherrschen werden, der Blackbox China und den arroganten Führern des Silicon Valleys und ihren Frankenstein-Firmen zu überlassen.

[Steven Hill ist Journalist in Residence am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Autor des Buchs „Die Start-up-Illusion: Wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert“.]

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